Xiomaras Werdegang ist eindrucksvoll. Als eine der ersten Absolventinnen der Atlantikuniversität URACCAN in Nicaragua leitet die 41-Jährige heute das Büro unserer Partnerorganisation FADCANIC in Rosita. Der vierfachen Mutter liegt viel daran, der Gemeinschaft möglichst viel zurückzugeben.
Woher kommst du, Xiomara?
Ich bin im Dorf „El Sombrero“ geboren. Als ich ca. 4 Jahre alt war, sind wir mit meiner Mutter aus Sicherheitsgründen ins 18 km entfernte Rosita gezogen, weil Papa (im Krieg der 80er Jahre) zu den Waffen gegriffen hatte und in die Berge gezogen war.
Hast du eine eigene Familie?
Ich habe zwei Söhne und zwei Töchter im Alter von 2, 6, 12 und 18 Jahren.
Welche Ausbildung hast du?
Ich bin bis 1990 in eine von Nonnen geführte Volksschule gegangen und habe im selben Schulzentrum die Sekundarstufe besucht; die Matura habe ich 1995 aus persönlichen Gründen in einer anderen Schule gemacht. Anschließend habe ich auf der URACCAN Land- und Forstwirtschaft studiert.
Wie sieht dein familiärer Hintergrund aus? Was waren die Voraussetzungen, um studieren zu können?
Meine Eltern sind Bauern, wir sind 14 Kinder (7 Mädchen, 7 Burschen). Obwohl meine Mama Analphabetin ist und wir wenig zum Leben hatten, wollte sie immer, dass wir alle – Mädchen und Burschen – zur Schule gehen. Wir hatten alle die gleichen Chancen!
Rosita lag im letzten Winkel Nicaraguas, ca. 400 km von der Hauptstadt entfernt, die Straßen waren in einem fürchterlichen Zustand und es gab keinen Transport in den 90er Jahren. Es sah danach aus, als würde sich mein Wunsch zu studieren nicht erfüllen. Anfangs wollte ich Krankenschwester werden, aber ich merkte schon bald, dass das nicht wirklich meine Berufung sein würde.
Es war ein Segen, als 1995 die URACCAN in der Atlantikregion ihre Türen öffnete. Die einzige Herausforderung (neben der, über mich hinauszuwachsen) war, dass es damals die Zweigstelle in Rosita noch nicht gab und der nächstgelegene Campus in Siuna war, ca. 70 km von Rosita entfernt. Ich wollte mich einschreiben, doch meine Mutter war dagegen, weil sie dachte, dass sich einige meiner Freundschaften negativ auf meine Ausbildung auswirken würden.
Wie haben deine Familie und dein Umfeld auf dein Studium reagiert?
Ich beschloss – obwohl meine Mama wollte, dass ich Krankenschwester werde – nach Bilwi zu fahren, um Land- und Forstwirtschaft zu studieren. Papa erfuhr erst, nachdem ich abgereist war, davon. Eine ältere Schwester unterstützte mich dabei, mich auf der URACCAN ins Vorbereitungsjahr einzuschreiben. Ich begann 1996. Letztlich konnte ich auf die Hilfe meiner Eltern und einiger Verwandten zählen, während der Ferien und zu Jahresende kehrte ich stets nach Rosita zurück.
Wie hast du deine Studienzeit erlebt?
Mit 17 Jahren zum ersten Mal das Haus zu verlassen, war irgendwie traumatisch. Ich musste mich ganz alleine der Welt stellen und dachte, dass ich nicht bereit dafür wäre. Im 1. Studienjahr wollte ich aufgeben, doch mein starker Willen ließ mich immer weitermachen, bis zum 5. Studienjahr.
Oft hatte ich nicht einmal die 2 Córdobas, um den Bus von Bilwi nach Kamla (Anm.: Standort vom Universitätscampus in Bilwi, ca. 6 km außerhalb vom Stadtzentrum) zu bezahlen, aber ich konnte immer auf Freunde zurückgreifen, die mich dabei unterstützten. Ich musste auch öfters meine Unterkunft wechseln, wohnte ein Jahr bei einer Familie, im nächsten Jahr bei einer anderen (das ging 5 Jahre so).
Obwohl ich enormen finanziellen Einschränkungen ausgesetzt war, denke ich heute, dass sie viel zu meiner Entwicklung beigetragen haben, weil ich Dinge zu schätzen weiß, die andere als irrelevant oder unbedeutend erachten.
Was waren deine beruflichen Schritte nach deinem Abschluss an der Universität?
Ich wohnte ein Jahr lang in einem Haus gegenüber vom FADCANIC-Büro in Bilwi und träumte davon, eines Tages für diese tolle Organisation arbeiten zu dürfen. Meine erste Arbeitserfahrung sammelte ich über ein einmonatiges Praktikum, wofür wir sogar ein bisschen was bezahlt bekamen. Als ich Ende 2000 kurz vor dem Studienabschluss stand, wurde ich ausgewählt, um an einem Kurs für „Organisationsentwicklung“ teilzunehmen, wo sich mir die Türen zu FADCANIC öffneten.
Am 5.7.2001 (bald feiere ich mein 19-jähriges Dienstjubiläum) begann ich, für FADCANIC zu arbeiten. Ich war eine „Minera“ (Anm.: Bezeichnung für Frauen wie Xiomara, die aus der Bergbau-Region „Las Minas“ stammen), die in Bilwi studierte und bereit war, danach wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt war der Vizerektor der URACCAN gleichzeitig Regionaldirektor von FADCANIC. Ich vermute, dass er über meine Pläne Bescheid wusste und deshalb entschied, dass ich den Kurs „Organisationsentwicklung“ belegen sollte, den zu diesem Zeitpunkt auch das gesamte Personal von FADCANIC machte.
Ein besonders bedeutsames Ereignis war für mich, und dafür danke ich FADCANIC, dass ich angestellt wurde, obwohl ich im 7. Monat schwanger war (was zwar gesetzlich in Nicaragua verankert ist, in der Praxis jedoch nicht passiert). FADCANIC scheute sich nicht vor meinem „Zustand“ und nahm mich unter Vertrag. So hatte ich Anspruch auf alle vor- und nachgeburtlichen Leistungen.
Was sind deine Aufgaben bei FADCANIC?
Ich bin für Leitung des Regionalbüros in Rosita mit 10 Mitarbeiter*innen zuständig sowie für die direkte Leitung von einem der beiden Projekte, die FADCANIC Rosita umsetzt.
Das erste Projekt (2019-2022) hat zum Ziel, die Ernährungssicherheit der indigenen, bäuerlichen Familien in der Atlantikregion zu verbessern. Es wird von Sei So Frei sowie der Austrian Development Agency finanziert und von Horizont3000 begleitet. Es geht hauptsächlich darum, den Familien agroökologische Techniken beizubringen, damit sie sich besser gegen den Klimawandel wappnen können. Konkret fördern wir Agroforstsysteme mit Fokus auf Kakao, die Einführung neuer Produktionsmethoden, damit sich die Familien mit den Erträgen ihrer Haus- und Nutzgärten versorgen können und die Schaffung von Saatgutbanken, um einheimisches Saatgut durch gemeinschaftliche Züchtung zu bewahren.
Das zweite Projekt (2018-2020) widmet sich der Schaffung eines nachhaltigen verbesserten Zugangs zu Trinkwasser für indigene Familien (Stamm Tuahka) aus 10 entlegenen Dörfern des Bezirks Rosita. Darüber hinaus lernen sie über Weiterbildungen, Workshops, Vorträge, Versammlungen und Erfahrungsaustauschtreffen gesundheitsförderliche Hygienepraktiken.
Was waren wichtige Voraussetzungen für deine Karriere?
Der Wille, über mich hinauswachsen zu wollen; Umweltbewusstsein; die Bereitschaft, die Gesellschaft mit neuen Ideen zu unterstützen.
Was gefällt dir am meisten an deiner Arbeit? Wie motivierst du dich?
Mir gefällt das, was ich tue. Ich fühle mich meiner Region sehr verbunden, vor allem meinem geliebten Rosita. Mir bereitet es Freude, Teil der FADCANIC-Familie zu sein, mit einfachen und bescheidenen Menschen zu teilen, am meisten aber gefällt es mir, von den bäuerlichen Familien zu lernen. Das motiviert mich, jeden Tag besser zu werden. Meine Kinder sind auch ein starker Antrieb. Außerdem motiviert es mich zu wissen, dass es Menschen gibt, die bereit sind, uns zu unterstützen. Wir müssen darum kämpfen, uns selbst versorgen zu können.
Die glücklichsten Momente sind für mich u. a. dann, wenn ich sehe, dass die Kinder extrem armer Familien zur Schule gehen, sich anders kleiden, in einem würdigen Haus leben und bessere Chancen haben, sprich eine bessere Lebensqualität. Am glücklichsten wäre ich, wenn ich die Umwelt wieder sauber und intakt sehen könnte.
Mich motiviert es auch zu wissen, mit welcher Anstrengung unsere Partnerorganisationen uns diese Projekte ermöglichen, wie sie die Finanzmittel dafür aufbringen, die aus Spenden von bescheidenen Menschen stammen, die bereit sind, das, was sie haben, zu teilen.
Ganz einfache Dinge, wie ein Kind oder einen betagten Mann zu sehen mit seinem Teller auf dem Tisch und verschiedenartigen(!) Nahrungsmitteln darauf. Letztendlich zahlen sich alle unsere Anstrengungen aus, wenn wir sehen, wie sich die Resultate in unserer Bevölkerung widerspiegeln.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit Sei So Frei aus?
Seit FADCANIC in Rosita ein Büro eröffnet hat, wurden wir von Sei So Frei unterstützt. Sei So Frei war und ist unser Hauptpartner in unserem Einsatz, die Lebensbedingungen der verletzlichsten Familien in der Atlantikregion, besonders in Rosita, zu verbessern. Ich danke Sei So Frei für dieses Engagement und vor allem für die Bereitschaft uns zu helfen, ohne mehr dafür zu erhalten als die Tatsache, uns in besseren Lebensbedingungen zu sehen. Wir tragen die Verantwortung, die Finanzmittel, die wir erhalten, einwandfrei zu verwalten, und verpflichten uns, dass jeder Cent dort ankommt, wo er hingehört: bei den bäuerlichen Familien.
Was möchtest du den Menschen aus deiner Heimatregion Rosita mitgeben?
Wenn wir es uns fest vornehmen, werden sich die Mühe und Anstrengung dafür zu kämpfen, was wir wirklich wollen, auszahlen. Bildung ist der Eckpfeiler für die Entwicklung einer Nation. Als vor 25 Jahren die URACCAN ins Leben gerufen wurde erhielten wir die Möglichkeit, uns fachlich weiterzubilden, zu professionalisieren. Eine Möglichkeit, die unsere Eltern nicht hatten, die unseren Kindern heute aber offensteht.
Mehr Infos:
>> Bauernmärkte in Rosita
>> Universität URACCAN